Angesichts der außerordentlichen, bis extremen Geldpolitiken der Zentralbanken, insbesondere der Europäischen Zentralbank (EZB), ist in der Politik und in Fachkreisen eine intensive Diskussion über die Gründe für die sehr niedrigen, bis negativen Zinsniveaus ausgebrochen. Diese Diskussion hat große geldpolitische als auch gesamtpolitische Bedeutung, da sie die Eckpunkte der zukünftigen Zentralbankpolitiken bestimmt, die wiederum die Wachstumspfade, Realzins-Niveaus, Investitionsbedingungen, Bank- und Versicherungsgeschäftsmodelle (inklusive Altersvorsorge) und die Qualität der Kapitalallokation insgesamt definieren.

Sehr aufschlussreich ist hierbei die Argumentation vieler Zentralbänker: die Zinsen seien deshalb so niedrig und real und nominal negativ, weil wichtige autonome Marktfaktoren sie in diese Richtung drängten, die Notenbanken zeichneten im Wesentlichen diese Faktoren nach, um Verzerrungen und Ungleichgewichte auf den Märkten zu vermeiden. Zu diesen Faktoren zählen im Wesentlichen (nach Philipp Lane, Chef-Ökonom der EZB):

  • Das sinkende Potentialwachstum in den Industrieländern, das tendenziell zu geringerer Kapitalnachfrage führt. In die gleiche Richtung führt auch eine geringere Kapitalintensität in der Digitalwirtschaft im Vergleich zur traditionellen Industrie.
  • Demografische Trends führen zunächst zwar zu geringerem Bevölkerungswachstum, gleichzeitig führt die ungleiche Verteilung des steigenden Sparaufkommens und eine geringere Risikoneigung der zunehmend älteren Menschen aber zu einem erhöhten Anlagevolumen mit der Tendenz zu risikoärmeren Titeln.

Diese Argumentation ist tendenziell sicher richtig; sie beschreibt ein Szenario relativ niedriger Zinsen, aber nicht Niveaus die erheblich unter den Inflationsraten, teilweise sogar im nominal negativen Bereich liegen. Diese sind eben nicht das Ergebnis von Politiken, die allein Marktrends nachvollziehen, sondern Ausfluss von außerordentlich aggressiven Maßnahmen, die ausdrücklich zum Ziel haben, die Marktergebnisse zu verändern: die kurzfristigen Refinanzierungssätze werden auf Null oder sehr niedrig gesetzt, was schon für sich einen erheblichen Einfluss auch auf die Langfristsätze hat. Vor allem aber wurden die Langfristsätze in bisher noch nicht gesehene Bereiche gedrückt durch die umfangreichen Anleihekäufe in Staats- und Unternehmensanleihen. Die EZB hat ca. ein Viertel der Staatsanleihen der Euro-Länder aufgekauft, die Japanische Zentralbank über 50%, die Federal Reserved ca. 13%. Hinzu kommen große indirekte Staatsfinanzierungen der Notenbanken über das kommerzielle Bankensystem. So halten etwa italienische Banken ca. EUR 400 Milliarden des italienischen Staates, welche – unter null Kapitalanrechnung – von der EZB zum Nulltarif refinanziert werden. Dieses Volumen ist höher als das gesamte Eigenkapital der italienischen Banken.

Es ist offensichtlich, dass Zentralbankmaßnahmen in dieser Größenordnung, bei denen zusätzliches Kapital „monetär geschöpft“ wird, die gegebenen autonomen Marktfaktoren weitgehend überlagern und somit die Zinsen auf Niveaus drücken, auf die sie ohne diese Maßnahmen nicht gekommen wären. Dies bleibt in der gegenwärtigen Diskussion weitgehend unberücksichtigt oder wird in ihrem Effekt vernachlässigt, was aber angesichts der bewegten Volumina nicht gerechtfertigt ist.

Ein Teil der Notenbänker scheint erkannt zu haben, dass diese Geldpolitiken, insbesondere die der EZB mit Minuszinsen, in die Sackgasse führen. Ihre defensive Argumentation, dass ja nur Marktbewegungen nachvollzogen wurden, geht in diese Richtung. Gleichzeitig – und darin liegt eben der Widerspruch – wird argumentiert, dass die Geldpolitik derart aggressive Maßnahmen ergreifen musste, da die Politiken in anderen Bereichen, wie der Fiskal- und der Strukturpolitik ihren Beitrag zur gesamtwirtschaftlichen Stabilität nicht leisteten (*). Hinsichtlich der Strukturpolitik ist dies zwar meist richtig, hinsichtlich der Fiskalpolitik aber überwiegend nicht: eine konservative Fiskalpolitik hat – mit guten Gründen – unter den großen Volkswirtschaften nur Deutschland betrieben, alle anderen Länder eher nicht. Die expansive Geldpolitik ging also generell mit merkbar defizitären Fiskalpolitiken einher. Dass trotzdem die Ergebnisse eher mäßig waren, lag fast ausschließlich an mangelnden Strukturanpassungen. Zur Bekämpfung von diesen ist die Geldmarktpolitik aber erwiesenermaßen nicht geeignet.

Kurzfristig konnte diese Politik gleichwohl vertreten werden, langfristig hat sie aber ein hohes Problempotential. Ein „japanisches Szenario“ mit langfristig geringem Wachstum und hoher Verschuldung erscheint kaum noch zu vermeiden. Es stellt sich sowohl die Frage, mit welchen Mitteln einer sich weiter verschlechternden Konjunktur begegnet werden kann. Es kann aber auch durchaus einen neuen inflationären Druck geben, der lange nicht gegeben war; zum Beispiel aus neuen umweltbedingten Bepreisungen im Energie-, Wohn-, Verkehrs- und Ernährungsbereich. Nach langer andauernder Niedrigzinsphase wird diesem kaum mit Zinserhöhungen begegnet werden können.

Schließlich gibt es auch noch einen politischen Effekt: andauernde Negativzinsen, auch für Privatkunden, werden das Euro-Projekt in weiten Wählerschichten diskreditieren.

Dr. Peter Gloystein
Düsseldorf, 22. Januar 2020




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