Nachdem die ultra-expansive Geldpolitik der EZB seit 2015 zunächst von der Politik und der Fachwelt durchaus positiv gewertet wurde (als Weg aus der Finanzkrise, als Rettung des Euro), häufen sich besonders nach den letzten Beschlüssen (die auch die letzten unter der Präsidentschaft Mario Draghis waren) die kritischen Anmerkungen, sowohl innerhalb als auch außerhalb der EZB. Diese beziehen sich vor allem auf die Frage, ob in der gegenwärtigen schwächeren Konjunktursituation ein erneutes Anleihe-Ankaufprogramm notwendig sei; die erneute Anhebung des Negativzinses bei der EZB fand weniger Kritiker, womöglich auch deshalb weil hierfür auch erstmalig eine Staffelung eingeführt wurde, die dessen Auswirkung abmildert. Diese kritische Debatte um die konjunkturellen Auswirkungen dieser Maßnahmen kann durchaus mit validen Argumenten in der einen oder anderen Richtung geführt werden, geht aber an erheblichen sich eher grundsätzlich stellenden Fragen einer solchen Politik vorbei.

Inflationsrate

Da ist zunächst einmal ihre grundsätzliche Begründung: Das Oberziel der Notenbank, die Stabilität des Preisniveaus sicherzustellen, wird definiert als durchschnittliche Preisniveausteigerung von knapp 2%. Die Inflationsrate soll nicht wesentlich unter 2% liegen, da in einem solchen Fall die klassischen geldpolitischen Instrumente, vor allem der Zinspolitik und der Bankenrefinanzierung, nicht oder kaum mehr greifen würden. In jedem Fall sei eine Deflation zu vermeiden, die geld- oder auch gesamtpolitisch sehr schwer zu bekämpfen sei. Da in der Eurozone die Preissteigerungsrate in den letzten Jahren immer erheblich unter dem 2%-Ziel lagen – eine Deflation drohte allerdings nie – hat die EZB 2015 die bekannte ultra-expansive Politik mit Minuszinsen auf Bankguthaben und dem Ankauf von Staatsanleihen begonnen, um die Inflation in Richtung 2% zu drücken.

EZB-Politik

Ein wesentliches weiteres Ziel, besonders des Ankaufprogramms, war es, die Renditen auf Euro-Staatstitel, die damals sehr auseinander drifteten und für die südeuropäischen Länder viel zu hoch waren, näher an die deutschen Leitwerte heranzuführen. Diese letztere Ziel hat die EZB-Politik erreicht, das erstere Inflationsziel von knapp 2% nicht – trotz eines enormen Einsatzes von Zinsraten von -0,4% (jetzt -0,5%) und einem Ankaufsvolumen, was inzwischen knapp 25% der gesamten ausstehenden Staatstitel im Euroraum entspricht. Das Ankaufsprogramm war inzwischen ausgesetzt, ist derzeit aufgrund der eingetrübten Konjunkturaussichten aber wieder aufgenommen worden, mit einem monatlichen Nettoankaufsvolumen (über die Tilgungen hinaus) von zunächst 20 Milliarden. Diese Maßnahmen haben einen Großteil der Euro-Staatstitel (sogar einen Teil der griechischen) in den Minusbereich gedrückt, ihre konjunkturpolitischen Auswirkungen sind allerdings als sehr begrenzt anzusehen.

Diese sehr weitgehenden unorthodoxen Maßnahmen haben so den Euro und die Wirtschaft in der Eurozone nach der Finanzkrise stabilisiert, aber in der Geldpolitik dazu geführt, dass die Notenbank-Instrumente sich inzwischen in ihrer Wirksamkeit erschöpft haben. Die Maßnahmen, die ergriffen wurde, um gerade diese Instrumente für die Zukunft intakt zu halten, haben dazu geführt, dass sich die EZB-Politik wegen der inzwischen einsetzenden Stumpfheit ihrer Instrumente in der Sackgasse befindet – und dies in einer gesamtwirtschaftlichen Situation, die durchaus Eingriffe erfordern kann.

Diese inzwischen eingetreten Problematik im Timing der Kurzfriststeuerung wird bei längerer Beibehaltung dieser Politik auch erhebliche negative gesamtwirtschaftliche Langfristfolgen haben. Je länger diese Politik andauert, umso schwerer wird es, bei anziehender Inflation von über 2% gegenzusteuern. Bei noch über Jahre andauernder gleichlaufender Konstellation wird dies unmöglich, weil sich die Schuldner (öffentlich, unternehmerisch, privat) an die niedrigen (und real und zum Teil nominal negativen) Zinsen gewöhnt haben und merkbare Erhöhungen (in den real positiven Bereich) schwere gesamtwirtschaftliche Einbrüche zur Folge hätten. Diese Gefahr wird durch die schon jetzt außerordentlich hohen Schuldenstände bei Staaten (Italien und Griechenland) und Unternehmen verstärkt. Probleme tauchen aber nicht nur auf der Schuldner- sondern auch auf der Gläubigerseite auf. Nach lang andauernden Niedrigzinsphasen sind die Bestände aller Kapital-Sammelstellen (Zentralbanken, Versicherungen, Banken, Investmentfonds) voll mit langlaufenden Niedrigzinstiteln oder gar Negativzinstiteln, die bei einem Zinsanstieg stark an Wert verlieren. Insgesamt kommt es zu einer massiven Kapital-Fehlallokation (Blasenbildung) mit hohen Verlustrisiken. Dies ist besonders beklagenswert in einer demografisch alternden Gesellschaft, in der die Pro-Kopf-Produktivität tendenziell abnimmt. Wenn hierzu auch noch die durchschnittliche Kapital-Rentabilität sinkt, steht es um die Gesamt-Wachstumsperspektiven außerordentlich schlecht.

Diese Tendenzen zeigen sich auch im persönlichen und unternehmerischen Mikro-Bereich: Der Aufbau einer privaten Altersvorsorge wird erheblich erschwert, der Zinseszins-Effekt arbeitet nicht mehr für, sondern gegen den Sparer. Planrechnungen über mehrere Jahrzehnte zeigen dramatische Effekte. Natürlich kann in andere Anlageklassen (Aktien, Immobilien, Rohstoffe, Edelmetalle) ausgewichen werden, dies aber mit einem erheblich größeren Risikoprofil. Ähnliche Wirkungen wie auf der Anlageseite zeigen sich bei den Verbindlichkeiten, so bei den Pensionsrückstellungen der Unternehmen. Bei Defined-Contribution-Modellen sinken die sich ergebenden Altersversorgungs-ansprüche erheblich, bei Defined-Compensation-Ansätzen steigen die hierfür notwendigen Rückstellungen, was die Stabilität ganzer Unternehmen gefährden kann.

Als Argument gegen die hier geschilderten Szenarien wird oft vorgebracht, dass das Zeitalter merkbarer Inflationen aus strukturellen Gründen (hier wird vor allem die Demografie genannt) vorbei sei. Dies ist wahrscheinlich eine unhistorische Illusion, unter anderem, da aufgrund der voraussehbar abnehmbaren Produktivitäten in den Industrieländern und auch aufgrund der beschriebenen Zentralbank-Politiken sich bereits zukünftige Inflations-Potentiale aufbauen. Weitere erhebliche gesamtwirtschaftliche Kosten- und damit auch Inflationssteigerungen zeichnen sich zudem bereits heute aus den notwendigen Maßnahmen zur Bekämpfung des Klimawandels ab.

Aus den genannten Gründen erscheint die gegenwärtige EZB-Politik nicht nur kurzfristig, sondern auch langfristig sehr problematisch. Sie ist eine „Überdrehung“ der Geldpolitik, die mit hohem geldpolitischen Einsatz unter Inkaufnahme erheblicher Nebenwirkungen versucht, gesamtwirtschaftliche Probleme zu lösen, die geldpolitisch nicht zu lösen sind.

Dr. Peter Gloystein
Düsseldorf, 24. Oktober 2019




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