1. Die politische Bedeutung dieses Vorschlags ist außerordentlich groß.

Er ist ein Zeugnis europäischer Handlungsfähigkeit und Solidarität angesichts einer außerordentlichen krisenhaften Herausforderung. Er unterlegt die deutsch-französische Achse, die für das Funktionieren der EU essentiell ist. Er tut dies bei einem für die zukünftige europäische Entwicklung entscheidenden Projekt. Das Projekt ist sowohl für den Zusammenhalt des Euroraums, der sehr gefährdet war und ist, als auch für die Gesamtgemeinschaft mit ihren sehr unterschiedlichen Entwicklungsständen von großer Bedeutung. Dies gilt auch auf lange Sicht, obwohl der Plan angeblich nur einmalig zur Bekämpfung der gegenwärtigen Krise angelegt ist. Für die Beurteilung der Langfristwirkung ist wichtig, dass bestimmte zentrale Mechanismen eingeführt werden, die kaum mehr zurückgenommen werden können, wie gemeinsame Mittelaufnahme auf den internationalen Kapitalmärkten durch die Europäische Kommission (an sich vertraglich untersagt), Mittelvergabe als Zuschuss, Bedienung des Kapitaldienstes aus dem EU-Haushalt und schließlich die wirtschaftspolitische Konditionierung dieser Mittel (die von den Südstaaten beim ESM in der Zwischenzeit praktisch abgeschafft worden war).

2. Die Struktur des Vorschlages ist politisch klar konturiert und deshalb auch politisch wirksam.

Der Dreiklang aus gemeinschaftlicher Mittelaufnahme, Herausgabe der Mittel als Zuschuss und Leistung des Kapitaldienstes aus dem EU-Haushalt hebt sich sehr vorteilhaft von anderen EU-Projekten ab, deren komplexe Strukturen sich oft nur Fachleuten erschließen.

3. Das Programm ist wirtschaftspolitisch sehr zielgerecht.

Dies ergibt sich zunächst aus der Mittelvergabe als Zuschuss, die die höchste Transferwirkung unter allen Instrumenten (wie Kredite und Garantien) aufweisen. Sie vervollständigt den bisherigen Instrumentenkasten der EU, der derart großvolumige Zuschussvergaben, mit einer gewissen Ausnahme im Agrarbereich, bisher nicht vorsah. Die EU sollte sich nicht zu einer Transferunion entwickeln. Mit diesem Schritt würde sie das allerdings tun. Das mag man politisch bedauern (es war vertraglich auch so nicht vorgesehen), wirtschaftspolitisch ist es bei einem Integrationsprojekt derart divergierender Länder und insbesondere bei einer Währungsunion unumgänglich. Es wird also ein wesentlicher Schritt in Richtung einer neuen Integrationsstufe gemacht. Dies ist kein „Hamilton-Schritt“, wie er teilweise analog zur Übernahme der Schulden der US-Staaten durch die Zentralregierung im Jahre 1790 genannt wurde, aber vielleicht ein „Halb-Hamilton“. Es kann natürlich gar keine Rede davon sein, dass die bestehenden Staatsschulden gemeinschaftlich übernommen werden, aber es erfolgen eben doch großvolumige gemeinschaftlich finanzierte Mitteltransfers zur Erleichterung der Fiskallast der Einzelstaaten.

4. Das Volumen ist ausreichend und fügt sich passend in die anderen EU-Instrumente ein.

Die EZB hat berechnet, dass zur Bekämpfung der Corona-Krise in der EU etwa EUR 1,5 – 2 Billionen benötigt werden. Mit den in der vorgeschlagenen Weise mobilisierten EUR 500 Milliarden mit einer hohen Transferqualität wäre schon eine gute Basis für die zu erreichenden Volumina gegeben. Hinzu kämen EUR 410 Milliarden einsetzbare ESM-Kreditmittel (die auf über EUR 700 Milliarden erhöht werden könnten), EUR 100 Milliarden aus dem von der Kommission vorgesehenen SURE-Fonds zur Stärkung der nationalen Arbeitsmärkte und ein neuer im Zusammenhang mit Corona eingerichteter EUR 200 Milliarden Garantiefonds für die Vergabe von EIB-Krediten. Zusammen mit den Verteilungseffekten aus dem noch zu beschließenden EU-Haushalt 2021 bis 2027 erreichte man also durchaus die von der EZB als notwendig erachteten Größenordnungen, wobei die Instrumente allerdings nur liquiditätsmäßig und nicht von ihrer Transferqualität gewichtet wurden. Bei dieser Betrachtung wurden die Effekte aus EZB-Ankäufen nationaler Schuldtitel, die in den letzten Wochen in erheblichem Umfang erfolgten, und die hohen automatischen Transfers aus dem Target2-System noch gar nicht mit einbezogen.

5. Der Vorschlag verlagert die notwendigen Anpassungsmaßnahmen von der gemeinsamen Geldpolitik (EZB) zur gemeinsamen Fiskalpolitik (EU-Kommission).

Diese Verlagerung ist wirtschafts- und integrationspolitisch sehr erwünscht, weil die EZB-Politik nicht mehr die Hauptlast trüge, was mittel- bis langfristig ihre Funktionsfähigkeit beschädigen würde – mit allen nachteiligen gesamtwirtschaftlichen Folgen. Allen, die den jetzt vorgeschlagenen Weg vertrags-, integrations- und ordnungspolitisch bedenklich finden, muss klar sein, dass bei Ablehnung des Merkel-Macron-Vorschlags als einzige realistischer Alternative die großvolumigen Anleihe-Ankaufsprogramme der EZB verbleiben – oder aber eine desintegrierende EU. Im Übrigen würde die Realisierung des vorgeschlagenen Wideraufbaufonds die wirtschaftspolitische Brisanz des kürzlichen EZB-Verfassungsgerichtsurteils erheblich verringern, da die inkriminierten EZB-Ankaufsprogramme tendenziell an wirtschaftspolitischer Bedeutung verlören, allerdings immer noch sehr wichtig blieben.

6. Die erhebliche politische Opposition gegen diesen Plan wird sich nicht durchhalten lassen.

Diese Opposition muss sehr ernst genommen werden sowohl in wirtschaftspolitischer Sicht (wenig kontrollierte Schulden-Union) und vertraglicher Sicht (verbotene Schuldenaufnahme der Kommission, untersagte Staatsfinanzeirung der EZB). Allerdings steht die EU in dieser Krisensituation an einem Scheideweg. Entweder man versucht diesen durchaus gewagten Integrationsschritt jetzt oder man lässt die EU kontrolliert „oder noch schlimmer unkontrolliert“ desintegrieren. Der politische Widerstand kommt vor allem von den Ländern Österreich, Niederlande, Schweden und Dänemark und aus Teilen der deutschen Politik. Da diese Gruppierungen aber durchaus grundsätzlich integrationsfreundlich ausgerichtet sind, ist davon auszugehen, dass sie sich einem Kompromiss öffnen werden, der so aussehen könnte, dass die Mittelvergabe aus dem neuen Fonds einer nachhaltigen Kontrolle etwa im Rahmen der Systematik des sogenannten „Europäischen Semesters“ unterzogen würde. Dies würde der inzwischen erfolgten Konditionierungs-Schwächung der ESM-Kreditvergabe entgegen wirken und diese teilweise reparieren. Kommentare aus dem südeuropäischen Raum, wie etwa die des italienischen Premierministers Conte, dass dieses 500-Milliarden-Projekt nur als erster Schritt betrachtet werden könnte, helfen dieser Diskussion allerdings nicht

Dr. Peter Gloystein
Düsseldorf, 22. Mai 2020




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